Rezension Scion: Hero [B!-Rezi]

Infernal Teddy

mag Caninchen
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Scion: Hero


Grundregelwerk [A!-Rezi] von Infernal Teddy


Ich bin aufgewachsen mit den großen Sagen der Weltgeschichte. Die Ilias, Beowulf. Ägyptische Göttersagen, Deutsche Heldensagen, Biblische Legenden. Auch modernere Interpretationen fesselten mich, seien es in den achtzigern Serien wie Ulysses 31, oder in den letzten Jahren Romane wie Dan Simmons' Ilium. Wie man sich also vorstellen kann bin ich immer begeistert, wenn ich ein Rollenspiel entdecke, welches die klassischen Helden- und Göttersagen zum Thema hat. Eines der interessantesten Spiele dieser Art in den letzten Jahren war White Wolfs Scion, eine Rollenspiel-Reihe, die sich mit dem Werdegang eines Helden vom einfachen Heroen zum Halbgott und seinem letztendlichen Aufstieg zu einer Gottheit befasst. Das erste Buch dieser Reihe, Scion: Hero, ist zur RPC 2009 auf deutsch erschienen, und nun stellt sich die Frage: Ist das Spiel gut, und wenn ja, wie ist die Übersetzung gelungen?

Rein optisch macht das Buch einen hervorragenden Eindruck: 370 Seiten Hochglanzpapier in Hardcover, zum größten Teil schwarz-weiß bis auf ein bestimmtes Kapitel, "Pantheon", welches in Farbe gedruckt wurde. Das Titelbild zeigt einen der „Signature Characters“, Eric Donner, zusammen mit den Raben Odins vor der Kulisse einer modernen Stadt. Der Vordergrund und Titel des Buches sind glänzend aufgedruckt, der Hintergrund ist Matt. Layout und Schrift des Buches sind sehr klar und angenehm zu lesen, das Artwork ist auf dem selben hohem Niveau das man von White Wolf gewohnt ist. Auf der Innenseite der Buchdeckel sind die „Signature Characters“ in Farbe abgebildet – die „Guten“ vorne, die „Bösen“ hinten. Optisch also ein schönes Produkt. Und inhaltlich?

In Scion: Hero schlüpft man in die Rolle eines Göttersprosses (man kennt das ja von Herkules) der von seinem jeweiligen mächtigeren Elternteil mit übermenschlichen Kräften und Fähigkeiten beschenkt wurde. Die Götter haben sich vor langer, langer Zeit aus der Welt der Menschen zurückgezogen, nachdem die Titanen besiegt worden waren. Vor kurzem sind die Titanen, die ursprünglichen Schöpfer der Welt und Erzeuger der Götter, welche vor langer, langer Zeit von ihren Kindern verbannt wurden, aus ihren Kerkern ausgebrochen und führen nun in der Überwelt Krieg gegen die Götter. Sechs Pantheone führen den Kampf gegen die Titanen im Himmel und auf Erden. Um den Kampf auf der Erde – im hier und jetzt – zu führen haben die Götter immer wieder Nachkommen – Scions – gezeugt und mit übernatürlichen Kräften und Ausrüstungen beschenkt. Diese Nachkommen sollen auf Erden die Titanenbrut und deren Helfer besiegen, ihre eigene Legende vorantreiben, und sich auf dem Weg zum Status einen Halbgottes zu machen (Etwas, was im zweiten Buch, Scion: Demigod, behandelt wird). Diese Information findet sich ganz über das Buch verteilt, es gibt kein eigenes, das Setting beschreibendes Kapitel. Wir halten also fest: Die Spieler sind die Nachkommen der antiken Götter, und sollen den Titanen und ihren Kreaturen in den Allerwertesten treten.

Das Buch eröffnet mit einer mit knapp 40 Seiten ungewöhnlich langen Kurzgeschichte, welche beschreibt wie Eric Donner, Scion des Thor, zu seinem Geburtsrecht kommt und seine ersten Abenteuer erlebt. Normalerweise ist diese „Game fiction“ nicht der Rede wert, aber in diesem Fall ist sie tatsächlich lesenswert, zum Einen weil sie einem ein sehr gutes Gefühl für die Welt bzw. für die Art von Abenteuer gibt, welche die Spieler erleben können, zum anderen ist sie tatsächlich sehr lesbar – hätte auch einen guten Anfang für einen Roman abgegeben. Nach der Titelseite und der Inhaltsseite kommt erstmal eine Doppelseite mit Charakterzeichnungen, welche die erste Hälfte des Buches einleitet – dem Spielerteil. Die ersten vier Seiten werden erstmal von einer kurzen Einleitung und einem Lexikon in Beschlag genommen, welches die wichtigsten Begriffe der Spielwelt erklärt.

Das erste „wichtige“ Kapitel trägt den Titel „Pantheon“, und ist der oben erwähnte farbige Abschnitt des Buches. Hier werden die sechs Pantheone beschrieben, die den Kampf gegen die Titanen aufgenommen haben, und die jeweils wichtigsten Götter. Die Pantheone sind: Die Pesdjet (Ägypten), das Dodekatheon (Griechen), die Asen (Wikinger), die Atzlanti (Azteken), die Amatsukami (Japan) und die Loa (Voudoun). Jeder Abschnitt beginnt mit einer allgemeinen Beschreibung des Pantheons und seiner Legende, wobei auch drauf hingewiesen wird das man sich – wenn man sich wirklich für das Pantheon interessiert – man sich auf jeden Fall mit den ursprünglichen Mythen beschäftigen soll. Nach der allgemeinen Beschreibung folgen die Beschreibungen der einzelnen Götter: Name, gefolgt von bekannten Aliase, eine Beschreibung des Charakters und der Mythen des Gottes, welche Kräfte der Gott gewöhnlich an seine Nachkommen vergibt, welche Fertigkeiten er bevorzugt, und wer seine göttlichen Rivalen sind. Zu jedem Pantheon gehören auch zwei Bilder, eines stellt das Pantheon in einer „klassischen Darstellung“ vor, eines zeigt die Götter wie sie in der Modernen erscheinen könnten. Zu jedem Pantheon gehört auch ein „Signature Character“, der im Anschluß an den Pantheon mit Charakterbeschreibung und -bogen vorgestellt wird. Insgesamt bietet dieses Buch über 50 Götter aus denen der Spieler wählen kann.

Das zweite Kapitel widmet sich der Charaktererschaffung. Diese verläuft so, wie man es von den World of Darkness Spielen oder von Exalted her kennt, wobei Exalted wahrscheinlich den besseren Vergleich darstellt. Ein großer Unterschied ist, das die Kategorie „Hintergründe“ bzw. „Vorteile“ hier vollkommen fehlt: die Spieler und der Spielleiter sollen zusammen klären, in wieweit der Charakter Zugriff auf Dinge wie Geld oder Einfluss hat, wobei das immer zum Charakterkonzept passen sollte. Was einen Scion auszeichnet sind ihre Geburtsrechte (legendäre Gegenstände, die den Scions von den Göttern geschenkt wurden, wie das Schwert Tyrfing oder das Goldene Vlies), Epische Attribute, Segnungen und Tugenden. Ebenfalls wichtig ist das Attribut „Legende“ - dieses Attribut ist ein Ausdruck dessen, wie stark das Schicksal den Charakter beobachtet, und wie sehr seine Taten das Schicksal beeinflussen. Die darauf folgenden Kapitel beschreiben die Eigenschaften eines Charakters im Detail. Zunächst werden die Attribute und Fertigkeiten erklärt, dann die die übernatürlichen Attribute, die dazu gehörigen besonderen Fähigkeiten und die Geschenke der Götter. Zu diesen Geschenken gehören die Domänen, Gruppen von Mächten mit denen die Scions der Welt ihren Willen aufzwingen können, und die Geburtsrechte. Geburtsrechte sind Kreaturen, übernatürliche Geschöpfe welche dem Scion dienen sollen; Gefolgsleute, legendäre Diener und Krieger wie die Myrmidonen oder Spartoi; Ratgeber, kluge Leute oder Geschöpfe, welche dem Nachkommen mit Rat zur Seite stehen sollen; Reliquien, legendären Besitztümer, welche dem Scion erlauben seine Domänen zu nutzen, oder gar einzigartigen Kräfte zu nuttzen. Das Buch bietet nicht nur Beispiele aus der Mythologie für solche Dinge, sondern auch ein Regelsystem um solche Dinge selbst zu erstellen.

Nach der Charaktererschaffung und den Wertebeschreibungen folgen in Kapitel Sechs die eigentlichen Regeln des Spiels. Auch hier zeigt sich die Nähe zu Exalted: Fast jede probe besteht aus Attribut + Fertigkeit + Bonus = Würfelpool, 7+ auf einem w10 entspricht einem Erfolg, eine 10 stellt zwei Erfolge dar, wenn kein Erfolg erwürfelt wurde und mindestens eine Eins vorliegt wurde ist es ein Patzer. Auch das Kampfsystem ist sehr nahe an Exalted, wenn auch ein wenig vereinfacht. Das wichtigste am Kampfsystem ist die Initiative: Zunächst wird eine Probe auf Geist + Aufmerksamkeit gewürfelt. Der Charakter, der am meisten Erfolge erzielt, handelt bei „Tick 0“ - ein Tick entspricht einer Sekunde. Jede Handlung, jede Attacke verbraucht eine bestimmte Anzahl von Ticks. Ein Beispiel: Charakter A handelt bei Tick 4, und schlägt mit einem Kurzschwert nach seinem Gegner. Diese Attacke dauert 4 Ticks, abhängig von der Waffe. Charakter B handelt bei Tick 5, und verteidigt, was 3 Ticks verbraucht. Der Feind handelt bei Tick 6, und sprintet davon, was auch 3 Ticks verschlingt. Bei Tick 8 handeln dann Charaktere A und B wieder gleichzeitig, bei Tick 9 der Gegner. Das Initiative-System von Scion ist eines der innovativsten, die ich bisher im Rollenspiel gesehen habe, und es wundert mich ein wenig, das es so etwas nicht schon vorher gegeben hat. Gerade Spiele wie Shadowrun könnten von einem solchen System profitieren. Den Abschluss des Spielerteils des Buches bilden die regeln zur Charakterentwicklung, welche den üblichen Vorgaben eines White Wolf-Spiels.

Der zweite Teil des Buches, Erzähler, beginnt mit einem Kapitel darüber, wie man ein Spiel leiten sollte, in dem die Charaktere epischen Helden der Sagen entsprechen. Vieles hier richtet sich an Anfänger – generell ist Scion sehr Einsteigerfreundlich – aber manche der hier enthaltenen Tipps sind Sachen, an die auch erfahrene Spielleiter denken sollten. Im darauf folgenden Kapitel wird darauf eingegangen wie das Schicksal die Charaktere und ihre Umgebung manipuliert, und wie die Legende der Charaktere die Menschen um sie herum manipuliert. Die hier vorgestellten Regeln entsprechen dem Geist des Spiels und der klassischen Sagen, und bieten den Charakteren die Möglichkeit, der Welt alleine durch ihre Taten ihren Stempel aufzudrücken. Scion: Hero bietet im elften Kapitel etwas, das man normalerweise bei White Wolf vergeblich sucht: ein fertiges Abenteuer. Das Abenteuer geht davon aus das die Spieler die „Signature Characters“ spielen, aber es sollte mit jeder Gruppe spielbar sein. Aufgebaut ist es entsprechend dem von White Wolf entwickelten Storytelling Adventure System, und handelt von einem besonders mächtigen Gegenstand, den die Spieler während einer Konferenz in Las Vegas finden sollen.

Abgeschlossen wird das Buch durch ein ausführliches Kapitel mit Antagonisten jeglicher Art – Menschen, Monster, Legendäre Geschöpfe, Titanenbrut, gewöhnliche Tiere, andere Nachkommen – die hier vorgestellten sechs Scionen sind als Gegenspieler zu den „Signature Characters“ gedacht, und sollen die Spieler besonders herausfordern. Zum Schluss findet sich noch ein sehr guter Index, ein Charakterbogen, und eine Ankündigung für Scion: Demigod, welches von Prometheus Games im August veröffentlicht werden soll. Bevor ich jetzt ins Fazit gehe, noch eine Anmerkung zur Übersetzung: Die Übersetzung ist hervorragend – das letzte Mal das ich eine Übersetzung gelesen habe, die so gut, so stimmungsvoll war dürfte SR 2.01D gewesen sein, hier kann man Prometheus Games nur in den höchsten Tönen loben, bitte weiter so - wenn die Qualität sich nicht ganz arg verschlechtert dürfte das hier die einzige Spielreihe sein, die ich auch auf Deutsch sammeln werde.

Fazit:
Scion: Hero setzt sich zum Ziel, den Spielern es zu ermöglichen einen antiken Heroen, ein Gotteskind in der Moderne zu spielen, und erreicht dieses Ziel vollkommen. Scion ist das bisher gelungenste Spiel von White Wolf seit dem Erscheinen der neuen World of Darkness. Selten habe ich ein so stimmungsvolles und den Zielen der Designer so treues... Ach, wißt ihr was? Vergesst es. Scion ist eines der besten Spiele, die ich in den letzten zehn jahren gelesen habe, und die beste Übersetzung seit SR2 – ob ihr Erzählonkels seid, oder knallharte Actionspieler, ihr seid es euch schuldig, euch dieses Spiel anzuschauen.
Vom 15. bis zum 17. Mai ist in Kaiserslautern Con. Ich fahre hin, ich bringe zwei Flaschen Met mit, lese unterwegs American Gods, und leite dort dieses Spiel. Wer hat Lust mitzuspielen?Den Artikel im Blog lesen
 
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